Johannes Rux:

Das Kopftuch, der Sportunterricht und die Glaubensfreiheit

erstmals erschienen in: bildung & wissenschaft(internet-link: "http://www.bawue.gew.de/bildguwiss/index.html") 5/1993, S. 39-44

und in: schul-management 3/1993, S. 4-8 

Im Koran heißt es: "Und sprich zu den gläubigen Frauen, daß sie ihre Blicke niederschlagen und ihre Scham hüten und daß sie nicht ihre Reize zur Schau tragen, es sei denn, was außen ist, und daß sie ihren Schleier über ihren Busen schlagen und ihre Reize nur ihren Ehegatten zeigen oder..."(1) Für gläubige Moslems bedeutet dieses Wort des Propheten Mohammed, daß Frauen sich außerhalb der Familie nur verschleiert zeigen dürfen. In der Auslegung durch manche Koranschulen wird diese Forderung zum zwingenden Gesetz, das zumindest für alle Mädchen ab dem Beginn der Pubertät gilt. Manche moslemischen Mädchen wollen nach diesem Gebot ihrer Religion auch in der deutschen Schule handeln. Von den daraus entspringenden rechtlichen (und pädagogisch/menschlichen) Problemen handelt der folgende Beitrag.

Auch andere Religionsgemeinschaften und Sekten unterwerfen ihre Anhänger einem ähnlich rigiden Verhaltenskodex, der strikt zu beachten ist. So leiten fromme Juden oder auch manche christlichen Gruppierungen aus dem alten Testament Bekleidungs- und Verhaltensvorschriften ab, die ebenso streng sind wie die für gläubige Moslems. In der Regel sind es die Frauen, die stärker von solchen religiös begründeten Pflichten betroffen werden. Zwangsläufig wirken sich die strengen Gebote auf das Verhalten während des Schulbesuchs aus.

Wie wichtig die Lösung dieser Probleme ist, mag ein Blick nach Frankreich im Jahr 1990 zeigen. Damals war es zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen, nachdem ein Schulrektor einer aus Algerien stammenden Schülerin verboten hatte, während des Unterrichts den Hedschab (ein über die Schultern reichendes Kopftuch) zu tragen. In Frankreich mit seinem vollkommen laizistischen öffentlichen Schulsystem sind die Abgrenzungen zwischen Kirche und Staat zweifellos deutlicher als in den Ländern der Bundesrepublik. An einer öffentlichen Schule in unserem Nachbarland wäre auch ein gemeinsames Schulgebet oder ein Kruzifix im Klassenzimmer unzulässig, während dies - zumindest für die Grund- und Hauptschulen in Baden-Württemberg, die nach der Landesverfassung christliche Gemeinschaftsschulen sind - als selbstverständlicher Teil der Schulwirklichkeit gilt.

Auch in Deutschland bestehen aber durchaus Konfliktpotentiale, da die Schulen trotz ihrer mehr oder minder starken christlichen Prägung grundsätzlich zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität verpflichtet sind. Solche Konflikte entstehen besonders in Schulen und Klassen mit einem hohen Anteil an ausländischen Schülern.

Konflikte zwischen geschützten Rechtsgütern

Die beiden in der Praxis bedeutsamsten Fragen sind, ob Schülerinnen während des Unterrichts ein Kopftuch tragen dürfen und ob Schülerinnen aus religiösen Gründen vom Sportunterricht ganz oder teilweise befreit werden können. Hier soll die gegenwärtige Rechtslage dargestellt und daran aufgezeigt werden, wie in der Schule mit diesen Fragen umgegangen werden kann.

Der Konflikt zwischen dem Verlangen der einzelnen, ihrer Religion entsprechend zu leben und dem Interesse des Staates, das Schulsystem für alle gleich zu gestalten, ist schon auf der höchsten Ebene des Rechts, der Verfassung, gegeben:

Die Glaubensfreiheit

Das Grundgesetz (GG) garantiert in Artikel 4 die Glaubensfreiheit. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes beinhaltet diese nicht nur die innere Freiheit jedes Menschen, zu glauben, sondern auch die äußere Freiheit, diesen Glauben zu manifestieren, zu bekennen und zu verbreiten(2) . Obwohl auch das Grundgesetz eindeutig auf einer christlich-abendländischen Tradition begründet ist, gilt das Menschenrecht des Art.4 GG selbstverständlich auch für Anhänger nicht-christlicher Religionen. Auf die Zahl der Anhänger einer solchen Religion kommt es dabei ebensowenig an, wie auf die "Rationalität" ihrer Inhalte. Staatlichen Instanzen steht es nicht zu, über die "Religionswürdigkeit" einer Gemeinschaft zu entscheiden.

Dennoch muß der Kreis der "Religionen", die von Art.4 GG geschützt werden, abgegrenzt werden. Andernfalls wäre jede Gruppe von Gleichgesinnten eine potentielle "Religion", etwa auch eine Aktiengesellschaft. Das Abgrenzungskriterium ist dasselbe, was den von Art.4 GG geschützen "Glauben" des einzelnen Menschen von einer bloßen Meinung unterscheidet: nämlich das transzendente Moment. Von Art.4 GG wird der Glaube des Menschen an einen "Weltgrund" geschützt. Wesensmerkmal einer Religion ist neben diesem gemeinsamen Glauben, daß sie den Gläubigen eine Abgrenzung zwischen "gut" und "schlecht" ermöglicht. Eine solche moralische Unterscheidung ist auch ohne den Glauben an ein "höchstes Wesen" irgendeiner Art möglich, daher sind auch sogenannte "Weltanschauungsgemeinschaften" von Art.4 GG geschützt. Auch der Atheismus ist in diesem Sinne ein schützenswerter "Glaube". Es kommt nicht darauf an, ob man diesen Schutz aus einer "negativen Glaubensfreiheit" - also der Freiheit, nicht zu glauben - ableitet, oder daraus, daß auch der Glaube an nichts ein Glaube ist.

Es ist somit ein Wesensmerkmal jeder Religion und Weltanschauung, daß sie ihren Anhängern bestimmte Verhaltensregeln vorschreibt, die mehr oder weniger strikt zu befolgen sind. Die ebenfalls in Art.4 GG enthaltene Bekenntnisfreiheit garantiert jedem Menschen das Recht, sein gesamtes Verhalten an diesen Lehren seines Glaubens auszurichten. Grundsätzlich ist damit auch das Recht geschützt, sich in einer bestimmten Weise zu kleiden, wenn die Religion eine solche Art der Kleidung verlangt.

Die Grundrechte des Art.4 GG werden nach seinem Wortlaut schrankenlos gewährt. Anders als z.B. die Versammlungs- oder die Meinungsfreiheit, kann die Religionsfreiheit nicht durch einfache Gesetze beschränkt werden. Hierin liegt übrigens der Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Verfassungsordnung: In Frankreich gilt wegen der strikten Trennung zwischen Kirche und Staat das Recht auf Bekenntnisfreiheit in staatlichen Institutionen eben nicht oder nur sehr eingeschränkt. Demgegenüber gewährt Art.4 GG den Schülerinnen und Schülern das Recht, auch in der Schule die Gebote ihrer Religion zu befolgen.

Das Elternrecht

Daneben steht das in Art.6 II GG enthaltene - ebenfalls schrankenlos gewährte - Recht der Eltern, ihre Kinder nach ihren Vorstellungen zu erziehen. Dieses Recht der Eltern erlischt allerdings mit dem Eintritt der Religionsmündigkeit der Kinder, also mit 14 Jahren. Ab diesem Zeitpunkt haben alleine die Kinder das Recht, über ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft zu entscheiden. Konsequenterweise können ab diesem Zeitpunkt auch nur die Kinder darüber entscheiden, ob und welche Verhaltensnormen dieser Releigionsgemeinschaft sie befolgen wollen. Das heißt aber dennoch nicht, daß die Kinder auch für die Durchsetzung ihrer Rechte auf sich alleine gestellt wären. Aus dem allgemeinen Erziehungsrecht gemäß Art.6 II GG wird vielmehr ein Recht der Erziehungsberechtigten abgeleitet, ihre Kinder auch in diesen Angelegenheiten zu vertreten und zu unterstützen, sofern sie dem Willen der Kinder entsprechend handeln.

Dennoch liegt es auf der Hand, daß auch diese Rechtspositionen nicht völlig unbeschränkbar sind. Es sind z.B. weder religiös motivierte Menschenopfer zulässig, noch können brutale Mißhandlungen von Kindern durch ihre Eltern unter Berufung auf religiöse Gebote gerechtfertigt werden. Zu beachten ist hier wie bei jeder Grundgesetzbestimmung, daß jedes Grundrecht durch die Verfassung selber beschränkt ist: durch die Grundrechtspositionen anderer Menschen ebenso wie durch die anderen von der Verfassung geschützen Rechtspositionen.

Das Recht der staatlichen Schule

Zu diesen Rechtspositionen gehört auch der in Art.7 I GG garantierte Bildungsauftrag des Staates. Der Staat hat danach die Pflicht, ein Schulsystem zu schaffen und das Recht, für dieses Schulsystem bestimmte Erziehungs- und Bildungsziele festzulegen. Wesentlicher Bestandteil des staatlichen Schulsystems ist die allgemeine Schulpflicht, zu der in allen Bundesländern auch die Pflicht zur Teilnahme am Sportunterricht gehört.

Der Religionsvorbehalt im Schulbereich

In einer pluralistischen Gesellschaft wie der Bundesrepublik sind Konflikte zwischen den Erziehungszielen der Eltern und denen des Staats unvermeidbar, da in den Gemeinschaftsschulen nicht jedem Elternwunsch Rechnung getragen werden kann. Für die religiöse Erziehung scheint Art.7 II GG eine Ausnahme zu enthalten: Danach können alleine die Erziehungsberechtigten bzw. die religionsmündigen Kinder über die Teilnahme am Religionsunterricht entscheiden. Das bedeutet aber nicht, daß die staatlichen Erziehungsziele und die Schulordnungen hinter jedem für die Schüler geltenden religiösen Gebot zurücktreten müßten. Vielmehr sind die Rechte des Staates aus Art.7 I GG ebenso unbeschränkt wie das elterliche Erziehungsrecht und haben daher denselben Rang.

Kopftuch und koedukativer Schwimmunterricht

Wenn der Staat in den Schulen andere Ziele verfolgt als die Eltern, dann muß also ein Ausgleich gefunden werden, in dem die jeweiligen Rechtspositionen möglichst weitgehend gewahrt bleiben. Dasselbe gilt, wenn Schüler sich aufgrund ihrer Religion nicht den Normen des staatlichen Schulwesens unterwerfen wollen. Der Freiburger Staatsrechtslehrer und frühere Bundesverfassungsrichter Konrad Hesse hat für diese Abwägung von grundgesetzlich geschützen Rechtspositionen den Begriff der "Praktischen Konkordanz" geprägt, der von der Rechtsprechung übernommen wurde(3) .

In den letzten Jahren haben die Gerichte sich immer wieder damit beschäftigen müssen, wie diese praktische Konkordanz im Schulbereich hergestellt werden kann. Die Streitigkeiten drehten sich in der Regel darum, unter welchen Voraussetzungen Schülerinnen die Teilnahme am Sportunterricht aus religiösen Gründen verweigern können. Anhand der einschlägigen Rechtsprechung, die im folgenden dargestellt werden soll, lassen sich Grundsätze herausarbeiten, die auch für die Lösung anderer Konflikte zwischen religiös motiviertem Verhalten und den Regeln des staatlichen Schulsystems gelten.

Vorweg sei auf einen besonderen Umstand hingewiesen: Aus Baden-Württemberg sind bislang keine Entscheidungen der zweiten Instanz, des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) in Mannheim, zu dieser rechtlichen Problematik bekannt. Hieraus darf jedoch nicht geschlossen werden, daß sich - weil das Schulrecht bekanntlich Ländersache ist - die von den Gerichten der anderen Bundesländer entwickelten Grundsätze nicht auch auf das baden-württembergische Schulsystem übertragen lassen. Denn die Grundlage für die Urteile in anderen Ländern war nicht das jeweilige Landesschulrecht, sondern die Bundesverfassung. Das Grundgesetz, das in Baden-Württemberg selbstverständlich ebenso gilt, wie in allen anderen Ländern, zwingt zu einer bestimmten Auslegung des Landesschulrechtes. Insofern sind die Entscheidungen aus anderen Ländern sehr wohl auch für Baden-Württemberg relevant.

Befreiung vom Sportunterricht

Im ersten Fall ging es um Mitglieder der "Palmarianischen Kirche", die bei einer bayerischen Schule erfolglos die Befreiung ihrer Tochter vom Sportunterricht beantragt hatten. Die "Palmarianische Kirche" ist eine strang katholische Glaubensgemeinschaft, die die nachkonziliarische Entwicklung der römisch-katholischen Kirche strikt ablehnt. Frauen dürfen nach den Vorschriften dieser Kirche keinesfalls Hosen tragen. Kein Kirchenmitglied darf eine Badeanstalt betreten, wenn dort "unanständige Bekleidung" getragen wird. Dieses Verbot gilt sogar für den Fall, daß das Baden zu Heilzwecken verordnet wurde.

In Bayern ist, wie in allen Bundesländern, die Befreiung vom Sportunterricht vor allem aus gesundheitlichen Gründen zulässig. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) in München(4) hat zunächst festgestellt, daß für die Befreiung vom Sportunterricht dasselbe gilt, wie für die Befreiung von jedem anderen Unterricht: Sie ist nur zulässig, wenn ein wichtiger Grund vorliegt; die Befreiung ist aber nicht nur wegen gesundheitlicher Beschwerden möglich.

Der Bayerische VGH hat weiterhin klargestellt, daß Art.4 GG keine theologische Wertung durch staatliche Instanzen zuläßt, und damit den Einwand der Schulbehörden als falsch zurückgewiesen, Art.4 GG schütze nicht die "Narrenfreiheit". Das Gericht führte aus, auch Sektierer könnten sich auf dieses Grundrecht berufen. Es komme nicht darauf an, daß alle Anhänger einer bestimmten Religion ein Gebot in gleicher Weise befolgten. Das 5. Buch Mose (22,5) enthalte die Forderung, daß Frauen keine Männerkleidung tragen dürfen. Von den Palmarianern werde diese Forderung als Gesetz ausgelegt, das unbedingt zu befolgen sei. Bei der Bekleidungsvorschrift handele es sich nicht lediglich um eine bloße Äußerlichkeit, etwa eine Tracht.

Das Gericht hat weiterhin untersucht, ob die in diesem Fall betroffene Schülerin sich auch sonst nach den Regeln ihrer Religion verhalte. Damit ist einer der wesentlichsten Grundsätze für die Zulässigkeit von religiös begründeten Sonderregelungen in der Schule klargestellt worden: Es reicht keineswegs aus, wenn eine Schülerin, ein Schüler oder die Eltern sich auf ein einzelnes religiöses Gebot berufen, das ein bestimmtes Verhalten erzwinge. Notwendig ist vielmehr, daß die Betroffenen auch sonst ihr Verhalten an den religiösen Bestimmungen ausrichten.

Für die Entscheidung, ob die Befreiung vom Sportunterricht von den Schulbehörden zu Recht verweigert worden war, mußte der Bayerische VGH schließlich noch die "praktische Konkordanz" mit dem staatlichen Recht auf Erfüllung der Schulpflicht herstellen: Er stellte fest, es habe kein milderes Mittel gegeben, durch das die Schülerin ohne Verletzung der religiösen Gebote am Sportunterricht hätte teilnehmen können. Wenn sie einen Rock statt einer Hose getragen hätte, wäre das Unfallrisiko untragbar groß geworden. Die bloße Anwesenheit der Schülerin während des Sportunterrichts wäre nach Ansicht des Gerichts auch keine sinnvolle Alternative gewesen. Wegen des absoluten Charakters des Gebotes, spiele es auch keine Rolle, ob der Unterricht koedukativ oder nach Geschlechtern getrennt erteilt werde.

Vor allem aber sei die Teilnahme am Sportunterricht für den schulischen Erfolg nicht unabdingbar: Die Schulbesuchsverordnung ermögliche die dauernde Befreiung vom Sportunterricht aus gesundheitlichen Gründen, ohne daß dies Auswirkungen auf die Versetzung in die nächste Klasse habe. Dann müsse eine Ausnahme von der Pflicht zur Teilnahme am Sportunterricht auch aus anderen wichtigen Gründen zulässig sein.

Unter Berücksichtigung dieser Umstände hat der VGH München entschieden, daß die Schulbehörden, das Mädchen vom Sportunterricht befreien mußten (vgl. auch schul-management 2/1989, S.11).

Koedukativer Sportunterricht

Im selben Jahr hatte der VGH Kassel über die Klage eines 15-jährigen Mädchens zu entscheiden(5) . Bei dieser Klage ging es in erster Linie um die Entscheidung der Schule, das Mädchen herabzustufen, nachdem ihre Leistungen im vergangenen Schuljahr immer weiter abgefallen waren. Das Mädchen berief sich unter anderem darauf, daß sie als Angehörige der Ahmaddiyya, einer orthodoxen islamische Sekte, nicht in Sportkleidung am koedukativen Sportunterricht hätte teilnehmen könne und daher ausgegrenzt und benachteiligt worden wäre. Auch wenn die Klage insgesamt erfolglos war, hat der VGH Kassel in seinem Urteil darauf hingewiesen, daß die Schülerin vom Sportunterricht hätte befreit werden müssen. Das Gericht berief sich dabei auf die Aussage des religiösen Betreuers der Schülerin, wonach für Frauen der Ahmaddiyya die Teilnahme am Sportunterricht zwar nicht generell verboten sei, aber zumindest dann, wenn Sportbekleidung getragen werden müsse und der Unterricht koedukativ stattfinde.

Dieses Urteil macht deutlich, daß es durchaus Abstufungen gibt. Wäre der Sportunterricht in diesem Fall nach Geschlechtern getrennt erteilt worden, hätte es eben keinen Grund gegeben, die Schülerin von der Teilnahme zu befreien.

Westliche Maßstäbe unerheblich

Im April 1991 hatte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg über die Klage des Imams der türkisch-islamischen Gemeinde Hannover zu entscheiden, mit der dieser die Befreiung vom Sportunterricht für seine fünf Töchter erreichen wollte(6) . Das Gericht hat zunächst festgestellt, daß auch bei religionsmündigen Kindern die Erziehungsberechtigten noch zur Klage befugt sind, sofern sie im Einklang mit dem Willen der Kinder handeln - wie dieser Wille festgestellt werden soll, wurde allerdings nicht gesagt; interessanterweise stützte sich das OVG insbesondere darauf, daß der Kläger als Imam seine Töchter zur Befolgung der religiösen Vorschriften erzogen habe; dabei sagt das alleine doch noch nichts darüber aus, ob diese Erziehung auch zum gewünschten Erfolg geführt hat! Auch hier wieder zog das Gericht wiederum Aussagen von religiösen Autoritäten heran. Es betonte, daß die Auslegung des Koran durch die Koranschule, der die Schülerinnen angehören vom Gericht nicht überprüft werden könne. Entscheidend sei, daß die Bekleidungsvorschriften nach dieser Auslegung des Koran verbindlich und nicht bloße Äußerlichkeiten seien. Unzulässig sei es insbesondere, diese Verhaltensregeln an westlichen Maßstäben von Gleichberechtigung zu messen. Da die Funktionsfähigkeit der Schule nicht beeinträchtigt sei, müsse der Klage stattgegeben werden.



Koedukativer Schwimmunterricht

Noch deutlicher wurde dann das OVG Münster(7) . Hier ging es um die Teilnahme einer moslemischen Schülerin am koedukativen Schwimmunterricht in der Grundschule. Das Gericht betonte zunächst nochmals, daß es nicht ausreiche, sich auf irgendwelche angeblichen religiösen Vorschriften zu berufen. Für die völlige oder teilweise Befreiung vom Sportunterricht müsse nicht nur die Existenz einer verbindlichen Religionsvorschrift nachgewiesen werden, sondern auch, daß der oder die Betroffene sich auch sonst an die Gebote der Religionsgemeinschaft halte.

Im konkreten Fall hatten die Schulbehörden argumentiert, daß für Moslems die Regeln des Koran angeblich in nicht-islamischen Ländern nicht verbindlich seien. Das Gericht hat aber zunächst klargestellt, daß die Mehrzahl der Koranschulen ausdrücklich die Pflicht jedes Moslems betone, auch im Ausland diese Gebote einzuhalten. Dies sei aber ohnehin irrelevant: Da Art.4 GG auch ultraorthodoxe Sektierer schütze, komme es alleine darauf an, ob der oder die im Einzelfall Betroffene sich durch den Koran gebunden fühle. Nicht das Verhalten des "durchschnittlichen Moslems" in Deutschland sei maßgeblich, sondern nur, daß diese spezielle Schülerin die strengen Verhaltensregeln befolge.

Das OVG Münster setzte sich dann mit der Frage auseinander, ob es von Bedeutung sein kann, daß im Islam, wie in fast allen Religionsgemeinschaften regelmäßig Mädchen und Frauen besonders strengen Regeln unterworfen werden. Es betonte, wie schon das OVG Lüneburg, daß westliche Maßstäbe von Gleichberechtigung eben nicht gelten. Die gesellschaftlichen Folgen eines an strengen religiösen Geboten ausgerichteten Verhaltens seien von denen, die diese Gebote befolgen wollen, hinzunehmen. Die Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht dürfe daher nicht deswegen verweigert werden, weil die Betroffenen dadurch in der Schule möglicherweise zu Außenseitern würden. Gleichermaßen könne es Schülerinnen auch nicht verwehrt werden, im Unterricht den Hedschab zu tragen.

Die weltanschauliche Neutralität der Staatsschule

Auf ein Problem sind die Gerichte bislang nicht eingegangen: Das deutsche Schulsystem soll grundsätzlich religiös und weltanschaulich neutral sein; dies gilt prinzipiell auch für "christliche Gemeinschaftsschulen" (obwohl diese Konstruktion von öffentlicher Schule mit religiösem Charakter im weltanschaulich neutralen Staat einen überaus breiten juristischen Spagat erzwingt). Deshalb ist z.B. in solchen christlichen Gemeinschaftsschulen - außer im Religionsunterricht - zwar ein christliches (überkonfessionelles), aber kein konfessionelles Schulgebet zulässig(8) . In den christlichen Gemeinschaftsschulen sind ferner christliche Symbole durchaus zulässig (z.B. Kruzifix im Klassenzimmer; dabei soll in Baden-Württemberg auf das "Empfinden beider Konfessionen geachtet" werden; das Empfinden anderer muß demgegenüber offenbar zurückstehen(9) ).

Es widerspricht diesem Neutralitätsgebot, wenn in der Schule - außerhalb des konfessionellen Religionsunterrichts - für eine bestimmte Religionsgemeinschaft oder Weltanschauung geworben wird. Schon das Tragen bestimmter Kleidungsstücke kann nach der Rechtsprechung bereits Werbungscharakter haben. Aus diesem Grund wurde es Lehrern z.B. untersagt, in der Schule die für Anhänger des "Bhagwan" typische rote Kleidung und die "Mala" zu tragen(10) . Diese Rechtsprechung ist nicht ohne Grund sehr umstritten. Da das entscheidende Argument aber die angebliche Vorbildfunktion der Lehrer ist, kann unterstellt werden, daß das Verhalten oder die Kleidung der Schülerinnen und Schüler das Neutralitätsgebot nicht verletzt.

Der konkrete Umgang mit dem Problem

Wie ist jetzt in der Schulwirklichkeit zu verfahren? Zunächst einmal gilt: Es gibt eine allgemeine Schulpflicht; das ist eine soziale Errungenschaft und eine der Grundlagen des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft. Wie jede allgemeine Pflicht mutet diese Schulpflicht dem einzelnen zu, bestimmte Lasten und Anstrengungen auf sich zu nehmen; in seine Rechte (z.B. auch das Erziehungsrecht der Eltern) wird eingegriffen. Von der Befolgung dieser allgemeinen Pflicht muß der einzelne entbunden werden, soweit seine Rechte sonst unzumutbar eingeschränkt würden. Im übrigen haben alle Schülerinnen und Schüler alle für sie vorgeschriebenen Unterrichts- und sonstigen Schulveranstaltungen ausnahmslos zu besuchen.

Für einen großen Teil der Fälle gibt die Schulbesuchsverordnung (unter diesem Stichwort im GEW-Jahrbuch abgedruckt) unmittelbare Vorschriften her. So sind dort z.B. für bestimmte religiöse Bekenntnisse genau definierte Freistellungen vorgesehen. Interessant und problematisch wird es überall dort, wo die Schulbesuchsverordnung keine genaue Vorschrift enthält und die Schule trotzdem eine Entscheidung treffen muß.

Praktisch am bedeutsamsten ist die Befreiung vom Unterricht aus religiösen Gründen. Am häufigsten sind Anträge auf Befreiung vom Schwimm- oder Sportunterricht. Vorstellbar sind aber auch Anträge auf Befreiung von der Teilnahme anderen Unterrichtsfächern (etwa der Geschlechtserziehung) oder für bestimmte Zeiten (religiöse Feiertage etc.).

Einschlägig für Unterrichtsbefreiungen ist § 3 der Schulbesuchsverordnung (unter diesem Stichwort im GEW-Jahrbuch abgedruckt). Notwendig ist gemäß § 3 II der Schulbesuchsverordnung ein schriftlicher Antrag der Erziehungsberechtigten. Bei religionsmündigen Kindern können nach den oben geschilderten Grundsätzen sowohl die Kinder als auch die Erziehungsberechtigten den Antrag stellen. Im zuletzt genannten Fall muß aber geklärt werden, ob der Antrag auch dem Willen des Kindes entspricht. Diese Feststellung kann im Einzelfall sehr schwierig werden. Es ist nämlich durchaus vorstellbar, daß religionsmündige Kinder sich nur dem Willen der Eltern fügen, obwohl sie selber eigentlich nicht nach deren religiösen Geboten leben wollen.

Nach § 3 I 1 der Schulbesuchsverordnung ist die Befreiung vom Sportunterricht dann möglich, wenn der Gesundheitszustand eines Schülers dies erfordert. Aus Satz 2 dieser Vorschrift ("Von der Teilnahme ... in einzelnen anderen Fächern ...") könnte geschlossen werden, daß im Sport nur Gesundheitsgründe gelten, ein anderer Befreiungsgrund nicht besteht. Der Sinn und Zweck dieser Norm zwingt aber dazu, sie so zu interpretieren, daß eine solche Befreiung - wie bei allen anderen Schulfächern - ebenfalls auch in "besonders begründeten Ausnahmefällen" zulässig ist. Sonst würde sich ja die Befreiung eines Schülers wegen einer wichtigen Familienangelegenheit für einen ganzen Tag nicht auf den Sportunterricht an diesem Tag erstrecken. Religiös begründete Verhaltens- und Bekleidungsgebote zählen daher auch in Baden-Württemberg zu "besonders begründeten Ausnahmefällen", die eine Befreiung vom Unterricht, auch vom Sportunterricht, ermöglichen können.

Die baden-württembergische Kultusverwaltung hütet sich gegenwärtig sehr deutlich davor, in dieser Frage schriftliche Auskünfte zu geben oder gar Erlasse oder Verwaltungsvorschriften zu produzieren. Allgemeingültige Aussagen lassen sich nicht treffen. Die im folgenden dargestellten Grundsätze sollen dabei helfen, im Einzelfall eine Entscheidung zu finden, die allen Interessen gerecht wird.

Zunächst müssen die Schüler bzw. Eltern ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft sowie die Existenz eines Ge- oder Verbotes, das die Mitglieder dieser Religionsgemeinschaft zu einem bestimmten Verhalten zwingt, nachweisen. Zunächst muß also dargeklegt werden, daß die Angehörigen einer bestimmten religiösen Gruppe sich zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet fühlen; danach ist zu beweisen, daß die einzelne Person dieses Verhalten auch praktiziert. Den Eltern bzw. der Schülerin oder dem Schüler obliegt die Beweislast, daß sie auch sonst nach den Geboten der Religion leben. Zwei Beispiele zur Illustration:

Ein Schüler, der über die Schulbesuchsverordnung hinaus an einem Feiertag seiner Religionsgemeinschaft vom Unterricht befreit werden will, muß es sich zurechnen lassen, wenn die anderen Mitglieder dieser Gemeinschaft in Deutschland die Feiertage auf den nächsten Sonntag o.ä. verschieben.

Eine Schülerin, die die Befreiung vom Sportunterricht beantragt, da der Koran es Frauen verbiete, "unzüchtige/index.htm" Kleidung zu tragen, ist nicht glaubwürdig, wenn sie nicht auch den Hedschab trägt.

Angesichts der großen Zahl von Religionsgemeinschaften und Sekten gibt es oft keine allgemeinverbindliche Auslegung der jeweiligen Gebote. Dies gilt insbesondere für den Islam, der keine allgemeine religiöse Autorität kennt, wie dies im Christentum Päpste, Synoden oder Landeskirchen sind. Für die Entscheidung der Schule maßgeblich ist die Auslegung durch die religiösen Lehrer und Priester derjenigen Gemeinschaft, der die betroffenen Schüler angehören. Wenn sich diese eindeutig äußern, muß die Schule das akzeptieren. Es steht der Schule nicht zu, den Sinn eines bestimmten Gebotes zu werten und ihre Entscheidung hiervon abhängig zu machen.

Geprüft werden muß dann, auf welche Weise den Schülern die Einhaltung der Gebote ermöglicht werden kann. Dabei ist immer das mildeste Mittel zu wählen: Beim Sportunterricht kommt es insbesondere darauf an, ob jede Sportart oder aber nur bestimmte (z.B. Schwimmen) nicht ausgeübt werden darf. Auch muß möglicherweise unterschiedlich entschieden werden, je nachdem ob der Unterricht koedukativ oder nach Geschlechtern getrennt durchgeführt wird. In der Regel wird eine Befreiung nur für den Schwimmunterricht erteilt werden müssen und nur dann, wenn dieser koedukativ erteilt wird oder Schülerinnen und Schüler verschiedener Klassen im Schwimmbad aufeinandertreffen.

Vielen Lehrerinnen und Lehrern wird die folgende Einschränkung nicht gefallen, aber sie ist verfassungsrechtlich geboten: Worauf es bei der Entscheidung nicht ankommt, sind die gesellschaftlichen Folgen für die Kinder. Wer nach den Regeln einer bestimmten Religion leben will, muß auch die negativen Folgen dieser Entscheidung tragen. Bei Kindern, die noch nicht religionsmündig sind, haben hier die Eltern und nicht die Lehrer das letzte Wort. Es ist das Recht eines jeden, nach seiner Façon selig zu werden oder auch unglücklich.

Dennoch zu beachten, sind die Folgen der Befreiung vom Unterricht auf den schulischen Erfolg. Da alle anderen Fächer für den Schulabschluß bzw. die Versetzung mehr oder weniger wichtig sind, kommt nur für den (nicht versetzungserheblichen) Sportunterricht eine generelle Befreiung überhaupt in Frage. Die Vorschrift des Ministeriums für Kultus und Sport für die Freistellung vom Sportunterricht (unter dem Stichwort "Sportunterricht/Freistellung" im GEW-Jahrbuch abgedruckt) sieht ausdrücklich die Möglichkeit vor, daß statt einer Note ein Freistellungsvermerk im Zeugnis eingetragen wird. Will eine Schülerin im Unterricht den Hedschab tragen, dann ist dies jedenfalls dann zuzulassen, wenn ihr Hörvermögen nur unwesentlich beeinträchtigt wird.

Abschließend muß die Schule prüfen, ob die Interessen der Mitschüler gewahrt sind. Bei einer Befreiung vom Unterricht ergeben sich wohl keine Probleme. Will ein Schüler oder eine Schülerin aber während des Unterrichts bestimmte religiös motivierte Handlungen vornehmen, sind Konflikte durchaus möglich. Unproblematisch ist auch hier der Hedschab. Auch ein gläubiger Moslem darf aber nicht während des Unterrichts die vorgeschriebenen Gebete in Richtung Mekka sprechen, wenn er damit den Unterricht stört.

Diese Grundsätze können, wenn sie konsequent angewendet werden, zu einem vernünftigen Interessenausgleich im Sinne der praktischen Konkordanz führen. Es liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Schule (das ist zunächst der einzelne Lehrer, dann die Schulleitung), im Fall der hier diskutierten religiösen Kleidervorschriften oder der Teilnahme am Sportunterricht aus religiösen Gründen über die Anträge zu entscheiden bzw. darüber, ob sie gegen ein entsprechendes Verhalten der Betroffenen (z.B. Tragen eines Kopftuchs im Unterricht) vorgehen oder dieses dulden wollen. Das Ermessen besteht nicht darin, daß die Schule entscheidet, worin die Religionsfreiheit der Schülerin besteht, sondern darin, daß zwischen der gesetzlichen Schulpflicht (Teilnahmepflicht am Unterricht sowie der schulischen Notwendigkeiten) einerseits und der Religionsfreiheit andererseits abgewogen wird.

In der multikulturellen Gesellschaft der Bundesrepublik sind Konflikte, wie sie hier dargestellt wurden, zwangsläufig. Früher gab es vor allem Reibungen zwischen der christlichen Prägung der Schule und dem Willen der Eltern und Schüler nach größtmöglicher Neutralität. Exemplarisch sind die Streitigkeiten um das Schulgebet(11) oder das Kruzifix in Klassenräumen von Gemeinschaftsschulen . Das Ergebnis dieser Streitigkeiten war eine immer deutlichere Neutralisierung der Schule. Heute müssen die Schulen hingegen damit umgehen, daß ein anderer Teil der Schüler und Eltern in der Schule eben nicht auf ihr Bekenntnis zu einer bestimmten Religion verzichten wollen.

Eine Schule, die nach ihrem Bildungsauftrag zur Toleranz erziehen soll, muß solche Konflikte allerdings ertragen können(12) . Gerade sie können dazu beitragen, daß dieser Bildungsauftrag verwirklicht wird. Denn Toleranz kann man nicht im Labor lernen, sondern nur in der tatsächlichen Konfrontation mit anderen Meinungen, Verhaltensweisen und Traditionen. 

Alle Rechte beim Autor: johannes.rux@uni-tuebingen.de( johannes.rux@uni-tuebingen.de)

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Fussnoten:

1. Koran, Sure 24, Vers 31; zitiert nach der Übertragung von Max Henning, Stuttgart (Philipp Reclam jun.), 1989, S.332 zurück zum Text

2. BVerfGE 24,236,245 Urteil vom 16.10.68 und BVerfGE 32,98,106 Urteil vom 19.10.71 zurück zum Text

3. BVerfGE 41,29,51 Urteil vom 17.12.75 zurück zum Text

4. Urteil vom 6. Mai 1987 abgedruckt in der "Neuen Zeitschrift für Verwaltungsrecht" (NVwZ) 1987, S.706 zurück zum Text

5. Urteil vom 3.9.87, NVwZ 1987, S.951 zurück zum Text

6. Urteil vom 26.4.91, NVwZ 1992, S.79 zurück zum Text

7. Urteil vom 12.7.91, NVwZ 1992, S.77 zurück zum Text

8. BVerfGE 52,223, Urteil vom 16.10.79 zurück zum Text

9. Erlaß des baden-württembergischen Kultusministeriums vom 9.11.1967; Amtsblatt Kultus und Unterricht S. 1260/1967; vgl. auch VGH München (NVwZ 1991, S.1099), Urteil vom 3.6.91 zurück zum Text

10. OVG Hamburg "Deutsches Verwaltungsblatt" 1985, S.456, Urteil vom 26.11.84; VGH München "Bayerisches Verwaltungsblatt" 1985, S.721, Urteil vom 9.9.85 zurück zum Text

11. s.o. Fussnote 8 zurück zum Text

12. BVerfGE 52,223,252 Urteil vom 16.10.79 zurück zum Text


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